Erdbebenforschung: Teufelstreppe statt Poissonkurve

Die Erdbebenforschung hat es sich zum Ziel gemacht, irgendwann einmal Erdbeben vorhersagen zu können. Bisher fütterte man Computermodelle mit mathematische Algorithmen, die davon ausgingen, dass starke Erdbeben in relativ geringen Tiefen Mustern folgen, die sich mit Hilfe einer Poissonkurve beschreiben lassen. Doch die Annahme, dass starke Erdbeben in regelmäßigen Zeitintervallen erfolgen erhielt einen starken Dämpfer: ein Forscherteam um Dr. Yuxuan Chen veröffentlichte eine Studie nach der die zeitliche Verteilung von Erdbeben der Teufelstreppe einer Cantorfunktion folgt.

Die Cantor-Funktion ist ein Fraktal, das durch nichtlineare dynamische Systeme demonstriert wird, in denen eine Veränderung in einem beliebigen Teil das Verhalten des gesamten Systems beeinflussen könnte. In der Natur findet sich das Muster unter anderem in Sedimentationsfolgen, Änderungen der Hebungs- und Erosionsraten und Umkehrungen im Magnetfeld der Erde.

Demnach treten starke Erdbeben in einer Region in Haufen (Custern) auf, die durch lange, aber unregelmäßige Intervalle seismischer Ruhe voneinander getrennt sind. Das widerspricht der These, dass sich der Stress an einer Störungszone gleichmäßig aufbaut und in mehr oder weniger regelmäßigen Intervallen in einem Erdbeben entlädt. Daher ist es auch unsinnig ein Erdbeben als statistisch Überfällig anzusehen.

Ein Grund, warum man bisher davon ausging, dass starke Erdbeben einer statistischen Regelmäßigkeit folgen, könnte darin liegen, dass man das Auftreten von Erdbeben noch nicht lange genug dokumentiert. Auch die Zeitabstände zwischen den Erdbeben einen Clusters könnten relativ lange sein und die Pausen zwischen den Clustern könnten um soviel länger sein, dass in den Erdbebenkatalogen vorhergehende Cluster überhaupt nicht erfasst sind.

„Die Faktoren, die die gehäuften Ereignisse steuern, sind komplex und könnten unter anderem den Stress, der ein Erdbeben stimuliert, Änderungen der Reibungseigenschaften und die Stressübertragung zwischen Fehlern oder Fehlersegmenten während eines Bruchs beinhalten“, sagte Gang Luo von der Universität Wuhan. Er merkte an, dass die Intervalle offenbar in umgekehrter Beziehung zur tektonischen Dehnungsrate im Hintergrund für eine Region stehen.

Die Studie hat enorme Auswirkungen auf die Risikoabschätzung in Erdbebengebieten: bisher ging man davon aus, dass nach einem starken Erdbeben mit einer Magnitude größer als 6 die gleiche Region nicht so bald wieder von einem weiteren starken Erdbeben heimgesucht wird. Doch die neuen Erkenntnisse gehen vom Gegenteil aus: wenn es erst einmal zu einem starken Erdbeben gekommen ist, steigt die Wahrscheinlichkeit für weitere starke Erdbeben in der Region deutlich an. Diese Erkenntnis deckt sich auch mit meinen eigenen Beobachtungen, auf die ich z.B. in Bezug auf die Erdbebenserien in Mittelitalien, Sulawesi, und Lombok hingewiesen habe. Gerade Erdbeben im 6-er Bereich scheinen nicht stark genug zu sein, um alle Spannungen eines Störungszonenbereichs abzubauen. Dafür können sie aber eine Art Kettenreaktion hervorrufen und Erdbeben in benachbarten Segmenten einer Störungszone auslösen.

(Quellen: seismosoc.org, Bulletin of the Seismological Society of America, 2020; doi: 10.1785/0120190148)